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Annette Tietenberg
Aufbruch ins Ungewisse
Katalog Salder, 2011


Degenhard Andrulats Metier ist die Malerei, auch wenn diese von manchen Zeitgenossen, die das Innovative hartnäckig im Wirkungskreis der inzwischen in die Jahre gekommenen “neuen Medien" vermuten, als anachronistisch bezeichnet wird. Degenhard Andrulat malt. Bild um Bild. Und jedes Bild ist eine Sensation. Denn es macht etwas nie zuvor Gesehenes sichtbar. Trüge Degenhard Andrulat nicht die Bereitschaft in sich, wieder und wieder ins Ungewisse aufzubrechen, so gäbe es sie nicht, diese pulsierenden Farbräume, die sich dem Hinzufügen und Weglassen, dem Zeigen und Verbergen verdanken. Schicht um Schicht trägt er Farbe auf, zieht Linien, legt Spuren. Diese Bilder repräsentieren nichts. Sie stehen nicht für etwas Abwesendes, mithin für nichts, das außerhalb des Bildfelds existiert und im Bild lediglich eine Verdopplung oder Verschiebung erfahren würde. Und sie geben auch kein mentales Bild wieder, das dem Künstler plötzlich vor Augen stand und im sorgsamen Nachvollzug auf die Leinwand gebannt wurde. Sie sind Ergebnis eines geduldigen Suchen und Findens, eines malerischen Prozesses, dem das Un?vor?hersehbare willkommener Anlass und nicht etwa Furcht einflößender Unsicherheitsfaktor ist. Dass ein Gelb, kontrastiert von einem satten Grün, an Leuchtkraft gewinnt, dass ein Rot danach verlangt, von einem Blau in seine Schranken verwiesen zu werden, dass die Symmetrie durchbrochen, der Bildraum an dieser oder jener Stelle zu öffnen oder zu verschließen ist - all das zeigt sich erst nach und nach im Laufe des sukzessiven Farbauftrags.

Woher nimmt der Maler die Sicherheit, Entscheidung für Entscheidung zu treffen? Woher weiß er, was als nächstes zu tun ist, wo doch seine Handlungen nicht revidierbar, eventuelle Fehlversuche nicht korrigierbar sind? Wie können, wenn sein Tun auf Nicht-Wissen basiert, derart stimmige Schwingungen der Tonwert?intervalle hervorgebracht werden? Wodurch kommt ohne vorherigen Testlauf ein derart überzeugendes Zusammenspiel von Farbnuancen, Tempowechseln und Richtungsgegensätzen zustande? Und wie lässt sich, ohne eine Vorzeichnung und ein ausgeklügeltes Konzept, eine gelungene Polarisierung, eine gegen-
seitige Steigerung, ein harmonischer Ausgleich oder eine notwendige Dissonanz von Farbklängen ins Bild setzen? Da schweigt sich die Bildwissenschaft aus, denn sonst müsste sie von Erfahrung und Vorahnung, von Stimmungen und Eingebungen, ja, von einem “Denken der Hand" sprechen.1 >>

Gewissheit ist nirgends. Zumindest darauf kann der Betrachter sich verlassen. Im polyfokalen Bildgeviert findet sein Blick keinen Halt. Alles will zugleich gesehen werden: die hintersinnig glimmenden Farbfeuer, die Linien, die in den benachbarten Vertikalen ihren Widerhall finden und die dunklen Schemen, die sich aus der Latenz des Bildraums emporheben. All dies ist Gegenwärtiges und Gewordenes zugleich. Das Bild will als Farbraum im Hier und Jetzt erfahren werden und legt zugleich Fährten aus, die zu seiner Historizität führen. So suggerieren Farblagen, die einen Hinter- und Vordergrund aufscheinen lassen, ein Zuvor und Danach. Dadurch animieren sie den Bildbetrachter dazu, den Malakt, aus dem das Bild hervorgegangen ist, in der Vorstellung zu rekonstruieren. Auch Abdrücke und Spuren, die zuweilen Rückschlüsse auf die Breite und die Beschaffenheit des zum Einsatz gebrachten Pinsels zulassen, zeugen von einer allmählichen Genese, von einem langsamen und stetigen Wachstum der Bilder. Als wollte er diesen Prozess der Hinzufügung von Farbe auf die einfachste Weise in Worte fassen, hat sich Degenhard Andrulat darauf verlegt, die verwendeten Farben beim Namen zu nennen. Sonst nichts. Aus dieser Aneinanderreihung von Farbbezeichnungen resultieren Titel, die wunderbar poetisch klingen. Milori Golden Deep, Indisch Auf?leuchten - Rubin, Gelb - Orange - Mars, Malvenweiß - gelblinig, Ockergrund - Lichtblau, Violet Perrindo - Golden Grey, Primrose gebeugt - Indanthrone Blue, Pariser Blau - Neapel Rand. Laut gelesen, lassen sie uns von Sehnsuchtsorten oder fernen Planeten träumen, und doch bezeichnen sie nichts als die Sache selbst: das verwendete Material. What you hear is what you see. Die Namen der Farben stehen unverbunden nebeneinander; es wird kein Satz daraus. Selbst ein “und" wäre zuviel. So steht jede Farbe für sich, und doch klingen in ihr sämtliche anwesenden Farbtöne nach.

Der nicht zu ergründende Bildraum und die räumliche Wirkung von Farbe beschäftigen die Kunsttheorie seit langem. Richard Wollheim beschrieb einst die Herausforderung, die ein Bild an unsere Wahrnehmung stellt, mit dem treffenden Wort twofoldness.2 Demnach gibt uns das Bild zweierlei zu sehen: einen sich illusionär entfaltenden Bildraum und einen dreidimensionalen materiellen Gegenstand, der an der Wand befestigt ist, aber, zumindest wenn es nach Wassily Kandinsky geht, durchaus den Anschein erwecken kann, vor der Wand zu schweben. Karl Schawelka kam zu dem Schluss: “Entweder sind wir uns des realen Raums, in dem sich unser Körper zusammen mit dem materiellen Bildträger befindet, bewusst - und dann ist das Bild nur ein Gegenstand unter weiteren Gegenständen in unserer Umgebung, oder wir lassen uns auf den vom Bild illusionierten, nur virtuell vorhandenen Raum ein, in den wir unsere Körper allerdings nicht mitnehmen können." 3 Richard Wollheim hingegen ist davon überzeugt, dass es möglich sei, beides zugleich zu sehen: das Bild als “etwas in etwas" und das Bild als Objekt im Raum. Wir konzentrierten uns, so seine Vorstellung von twofoldness, zwar jeweils auf einen dieser Aspekte, doch bliebe uns der andere Aspekt die ganze Zeit über bewusst.

Jedes Bild von Degenhard Andrulat ist ein Angebot an den Bildbetrachter, in einen solchen Zwischenraum einzutreten, in dem es kein Entweder - Oder, keine unüberbrückbare Differenz zwischen der überschaubaren Gesamtfläche des Bildes und all jenem gibt, was sie an Binnenereignissen einschließt. 4 Zwar hat man bislang den Begriff twofoldness nur auf eine solche Erweiterung der Raumerfahrung angewandt, die dem Malerischen entspringt, doch ließe sich angesichts der Malerei von Degenhard Andrulat fragen, ob twofoldness nicht ebenso geeignet wäre, die seinen Bilder inne wohnende Verzeitlichung zu bezeichnen. Auch hier lässt sich von einer Zweifachheit, einem Zusammenfallen von Sukzession und Simultaneität sprechen. Wir sehen zugleich etwas, das ist, und etwas, das war. Im Bild tritt das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu?sammen. Eben das hat Georges Didi-Huberman einen anachronistischen Standpunkt genannt, womit er nicht etwa rückwärtsgewandtes Denken meint, sondern auf einen kostbaren Moment der Erfahrung an?spielt, einen Moment, der sich dadurch auszeichnet, dass es gelingt, die Geschichte an einen Punkt zu bringen, der ihr bislang unbekannt war. 5

Das klingt paradox - und ist es auch. Denn es geht hier um nichts Geringeres, als darum, aus der Chronologie auszusteigen, die Unumkehrbarkeit des Zuvor und Danach nicht als gegeben hinzunehmen, den linearen Lauf der Zeit zu durchbrechen, indem das Vergangene, und sei es nur für einen Augenblick, in halluzinatorischer Unmittelbarkeit vergegenwärtigt wird. Dass wir, die Bildbetrachter, einen solchen kostbaren Moment erleben dürfen, verdanken wir der Tatsache, dass Degenhard Andrulat nach wie vor auf das Zusammenwirken, ja den Gleichklang von Auge und Hand vertraut. Was wir vor uns haben, ist kein errechneter und auch kein berechenbarer Bildraum, keine geschichtslose Synthese diverser Zustände des Addierens und Subtrahierens, wie sie ein digital erzeugtes Bild auf dem Display durchlaufen könnte, bevor ein Zustand fixiert wird, sondern ein “Möglichkeitsraum" 6, der ohne den nicht-intentionalen, den suchenden, den tastenden, den vom Scheitern bedrohten Malakt, ohne die Bereitschaft zum Aufbruch ins Ungewisse nicht zu erschaffen wäre.


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1 Dass es auch Gegenbeispiele gibt, möchte ich nicht verschweigen. Vgl. Elke Bippus: Skizzen und Gekritzel. Relationen zwischen Denken und Handeln in Kunst und Wissenschaft. In: Martina Heßler/Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld 2009, S. 76-93.
2 Richard Wollheim: Painting as an Art. London 1987, S. 46 ff.
3 Karl Schawelka: Raum - Farbe - Farbraum. In: Anne Hoormann/Karl Schawelka (Hg.): Who's afraid of. Zum Stand der Farbforschung. Weimar 1998, S. 38-61, hier S. 46.
4 Vgl. Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 30.
5 Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 7.
6 Gottfried Boehm: Das Paradigma “Bild". Die Tragweite der ikonischen Episteme. In: Hans Belting: Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch. München 2007, S. 77-82, hier S. 82.